Der Spiegel warnte: Nichts für Kinderohren. 1951 wurde in Hamburg Günter Eichs Hörspiel „Träume“ zum ersten mal gesendet. Danach verschwand es für 15 Jahre im Giftschrank. Der Grund: Wütende Anrufer und verstörte Radiohörer. Gerade deswegen ist „Träume“ eines der besten Hörspiele aller Zeiten. Heute Abend läuft es ab 20 Uhr im Deutschlandfunk – nicht verpassen, denn es geht dich an. Ja, genau dich!
Ein typisches Wohnzimmer der 50er Jahre: Sofa, Nierentisch und Cocktailsessel. Hier konnte abends die ganze Familie gemütlich zusammensitzen und sich berieseln lassen. Allerdings noch nicht vom Fernsehprogramm. Statt flimmernder Mattscheibe glühte das magische Auge des Radioapparats.
Auch heute, an diesem ganz gewöhnlichen Donnerstag im April 1951, sitzen in Hamburg wieder viele Eheleute vor dem Empfänger. Der wuchtige Holzkasten steht möglicherweise auf einer dünnbeinigen Kommode. Auf jeden Fall steht er zentral, denn das Radio bildet in den 50er Jahren noch den Mittelpunkt der Medienwelt. Eingestellt ist das Radio auf den Nordwestdeutschen Rundfunk NWDR, der bis 1956 ganz Norddeutschland versorgte, dazu Nordrhein-Westphalen und sogar Berlin. Alles ist gespannt, denn heute Abend soll es wieder ein Hörspiel geben.
Eine mörderische Angelegenheit
Die Hörspielredaktion hat ihr neuestes Stück auf einen späteren Sendeplatz verschoben. Es ist schon 20:50 Uhr, als die Sendung endlich beginnt. Die Familienrunde ist heute etwas kleiner als gewöhnlich, denn die Kinder sind schon im Bett. Vorsichtshalber, denn das Nachrichtenmagazin „der Spiegel“ hat schon gewarnt: Was heute über die Lautsprecher kommen soll, ist nichts für Kinderohren. Mehr noch: Das Hörspiel „Träume“ von Günter Eich sei eine mörderische Angelegenheit.
Wenn der elegante Detektiv Paul Temple wieder einen Juwelenraub in der feinen Gesellschaft aufklärt, knallt schonmal ein Schuss. Und in einem Hörspieldrama nach Schiller wird der Schurke am Schluss gelegentlich erdolcht. Das geschieht jedoch immer erbaulich und im gehobenen Theaterton.
Was unsere biedere Wirtschaftswunderfamilie heute erlebt ist weit entfernt von dezenter Krimiunterhaltung. Was sich da auf den Ätherwellen abspielt ist im wahrsten Sinne des Wortes unerhört!
Die angenehmen Träume werden von Schurken geträumt
In „Träume“ inszeniert Günter Eich fünf Alpträume. Jeder Traum wird von einem ganz normalen Durchschnittsmenschen geträumt, jeder Mensch stammt aus einem anderen Erdteil. Und jeder Traum ist auf seine eigene Art schlimm, schockierend, verstörend. Böse Träume eben, denn wie es im Hörspiel heißt: Vermutlich werden die angenehmen Träume dieser Welt von Schurken geträumt.
Man hört Räder rollen. Ein Zug fährt durch die Nacht. In dem Zug reist eine Familie: Zwei Uralte, ein Enkel, dessen Frau und ein Kleinkind. Vor mindestens 40 Jahren wurde die erste Generation der Familie in diesen Zug gesperrt. Seitdem fahren sie, weshalb oder wohin wissen sie nicht. Ihre Nachkommen wurden in dem fensterlosen Waggon geboren, sie glauben längst nicht mehr, dass es eine Welt außerhalb des dunklen Abteils gibt.
In einem anderen Traum wird eine australische Familie aus ihrem Haus vertrieben. Der „Feind“, angeblich ein blindes gesichtsloses Männchen, nähert sich mit schweren Schritten und nimmt ihr gesamtes Eigentum in Besitz – einen Grund gibt es nicht, Gegenwehr ist nicht möglich. In Afrika werden zwei Forscher von ihrem einheimischen Koch vergiftet und verlieren ihr Gedächtnis und ihre Sprache. Und in Amerika wohnen Menschen in einer Stadt, die von Termiten befallen ist. Längst haben die Termiten alles hohlgefressen, die Häuser und selbst die Menschen sind nur noch leere Hüllen, die bei jeder Erschütterung zu Staub zerfallen.
Kann man den nicht einsperren?
Das alles sind Töne, die man so kurz nach dem Krieg – und der oft erfolgreich verdrängten NS-Zeit – in seinem behaglichen Wohnzimmer nicht hören mag. Das Hörspiel läuft noch nicht lange, da gehen beim NWDR die ersten Anrufe ein. Aufgebrachte Hörer beschimpfen den Regisseur, die Redaktion, den ganzen Sender. Einige fordern ein Ende der gesamten Hörspielproduktion. Andere verlangen, diesen Günter Eich solle man am besten gleich einsperren. Ein Hörer fragt fast flehend, wie lange das Hörspiel denn noch dauere, als ob er sein Radiogerät nicht auch einfach abschalten könnte.
Verfeinerter Kannibalismus
Besonders harsche Kritik erntet der zweite Traum. Hier verkauft ein Ehepaar den eigenen kleinen Sohn an eine reiche chinesische Dame. Schon das verkaufen von Kindern an sich ist starker Tobak, aber es kommt noch schlimmer. Die reiche Frau kauft das Kind, um es zu schlachten und quasi als „Frischzellenkur“ für ihren greisen Ehemann zu verwenden. „Verfeinerter Kannibalismus“ umschrieb es der Spiegel-Artikel. Ein Szenario wie aus einem Horrorfilm, aber längst nicht das einzige, dass die Radiohörer damals so in Wallung brachte.
So beschwert sich ein Hörer, der Traum mit der eingesperrten Familie im Viehwaggon sei äußerst geschmacklos. Interessant nur, dass in diesem Traum überhaupt nicht die Rede von einem Viehwaggon ist. Hier wirkte der Traum im Hörspiel wohl wie ein ganz realer Traum und ließ etwas unterbewusstes an die Oberfläche steigen: Die Erinnerung an die Viehwagen, in denen vor kurzem noch Juden deportiert wurden.
Klangteppich der Angst
Genau das war auch die Wirkung, auf die Günter Eich abzielte. Er wollte deutlich machen, dass die Menschen seiner Zeit in ständiger Angst vor Zerstörung, Atomkrieg und Weltuntergang lebten. Die Angst ist allgegenwärtig, im Hörspiel wird sie angetrieben von den unterschwelligen Geräuschen: Das rattern des Zuges, die tappenden Schritte des „Feindes“, vor allem das immer lauter werdende zirpen der Termiten – keine Theaterkulisse wirkt so beklemmend wie ein solcher Klangteppich.
Sowohl Günter Eich als auch dessen Regisseur Fritz Schröder-Jahn war wohl bewusst, dass ihr Hörspiel nicht gut ankommen und für Verstimmung sorgen würde. Die Träume werden von Zwischentexten eingeleitet und getrennt. „Seid unbequem, seid Sand, nicht Öl, im Getriebe der Welt“, ruft Eich darin den Menschen an den Lautsprechern zu. Und auch: „Alles was geschieht, geht dich an.“ Eine Wahrheit, die sich ganz und gar nicht vertrug mit einer holzgetäfelten Wohnzimmerwelt zwischen Paul Temple und Heimatfilm.
Bis heute aktuell
15 Jahre lang blieb Eichs Hörspiel „Träume“ in seiner Urfassung unwiederholt. Doch mit seiner Ausstrahlung begann in Grunde die Geschichte des deutschen Hörspiels nach 1945.
Noch im selben Jahr produzierte der Hessische Rundfunk eine eigene Fassung. Es folgten Produktionen durch den Bayerischen Rundfunk, den Rundfunk der DDR und zuletzt 2007 durch den Norddeutschen Rundfunk. Für die späteren Fassungen hat Günter Eich einen sechsten Traum geschrieben, durch den der besonders umstrittene Traum mit dem verkauften Kind ersetzt werden konnte. Vielleicht weil Günter Eich im Nachhinein selbst von schlechten Träumen geplagt wurde? Vermutlich nicht, denn der neue Traum, in dem ein Geschäftsmann unwissentlich zum Henker wird, ist auch nicht unbedingt als Einschlafhilfe geeignet.
„Träume“ ist heute noch genauso wirkungsmächtig wie bei seiner Ursendung, und seine Botschaft hat nichts von ihrer Aktualität verloren. Eine Wiederholung dieses Stücks, egal in welcher Fassung, ist immer ein Ereignis.